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Offener Brief: Pflegesituation und mangelnde Menschenwürde

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Dieser offene Brief richtet sich an die nachfolgend genannten Personen sowie den Deutschen Bundestag in seiner Gesamtheit:

  • Bundeskanzlerin Dr. Angela Merkel
  • Frau Dr. Kristina Schröder (Familie, Senioren, Frauen und Jugend)
  • Herrn Daniel Bahr (Gesundheit)
  • Frau  Leutheusser-Schnarrenberger (Justiz)

Dieser Text wurde heute zusätzlich zu seiner Veröffentlichung hier per E-Mail an  die entsprechenden E-Mail-Adressen verschickt. Die entsprechenden Stellungnahmen werden hier nach Erhalt veröffentlicht.

Sehr geehrte Frau Bundeskanzlerin, sehr geehrte(r) Frau / Herr Minister(in), sehr geehrte Damen und Herren des Deutschen Bundestages!

Pflegemissstände sind bundesweit und auf Grund immer wieder bekannt werdender Vorfälle schon lange nicht mehr wegzudiskutieren. Leider ist diese Thematik für die Öffentlichkeit aber auch für unsere Politiker ein eher „unbequemes“ Terrain welches – wenn irgendwie möglich – gerne umgangen wird.

Die sich übers Land ausbreitende Entrüstung zu Vorfällen wie zuletzt im Saarland flacht relativ schnell wieder ab, es wird ortsbezogen nach Schuldigen gesucht, anschließend wird einen Moment lang über mögliche Verbesserungsmaßnahmen, den sog. „Frühwarnsystemen“ diskutiert und damit ist sowohl die Entrüstung als auch das Thema als solches wieder vom Tisch – bis sich wieder eine neue Spitze dieses Eisberges zeigt.

Sodann gehen die Diskussionen um Nachbesserungen wieder in eine neue Runde nach dem eben geschilderten Schema.  Mein Vorwurf ergeht nicht an die derzeitigen Amtsinhaber der jeweiligen Ministerien alleine, denn auch alle Ihre Vorgänger haben sich mit dem Thema schon beschäftigen müssen. Geändert hat es keiner.

Dieses in meinen Augen extrem traurige „Spiel“ geht nun schon mehrere Jahrzehnte ohne die entscheidenden Schritte nach vorn. Nahezu weltweit tritt die Bundesrepublik Deutschland immer wieder für die Einhaltung von Menschenrechten ein. Innerhalb der eigenen Grenzen jedoch ist die Würde eines Menschen kein Thema mit besonderer Dringlichkeit, was ich aus der tatenlos verstrichenen Zeit ableite.

Pflegemissstand ist ein großer Begriff der viele Pflegefehler zusammenfasst. Für Außenstehende legt dieser Begriff nicht direkt offen, welche Umstände alle darunter versammelt werden. Nur einige der wichtigsten Punkte möchte ich deswegen hier kurz aufzeigen:

  • Fixierungen und Ruhigstellungen durch Medikamente
  • bei dauerhaft bettlägerigen Pflegebedürftigen keine ausreichende Lagerung (Wundliegen)
  • Minderversorgung mit Speisen und Getränken
  • bewusste Verletzung der Intimsphäre und Respektlosigkeit
  • „geschönte“ Pflegedokumentationen
  • uvm.

In dieser nur kurzen Liste befinden sich bereits mehrere Straftatbestände, angefangen bei Körperverletzung bis hin zur Urkundenfälschung. Nur deswegen weil sich ein kranker und ggf. alter Mensch nicht mehr selbst ausreichend „zur Wehr setzen“ kann gibt dies niemandem das Recht, mit ihm zu tun was man möchte.

An dieser Stelle gestatten Sie mir zwei Zwischenfragen. Wie lange gedenken Sie und die deutschen Politiker im Allgemeinen diesem unglaublichen Treiben in Pflegeheimen (inkl. ambulanter Pflegedienste und Wohngruppen) noch weiter tatenlos zuzusehen? Wie viele Pflegebedürftige müssen noch vernachlässigt, drangsaliert und in ihrer Würde erniedrigt werden, ehe der deutsche Staat einen Handlungsbedarf erkennt?

Die Bürgerinnen und Bürger unseres Landes die in diese Thematik nicht involviert sind weil sie z.B. keinen Angehörigen haben der im Pflegeheim versorgt wird erfahren von den Missständen durch die Presse und immer erst dann, wenn es bereits wieder einmal zu den „Spitzen des Eisbergs“ (siehe Saarland) gekommen ist. Dies sind meistens jene Vorfälle bei denen es bereits Tote zu beklagen gab. Die landesweit vielen und täglich stattfindenden Fälle von Menschenrechtsverletzungen bleiben für schätzungsweise 80% unserer Bevölkerung „nur“ eine Dunkelziffer.

Nicht alle Pflegebedürftigen haben Angehörige, die einerseits regelmäßig zu Besuch sind und andererseits „mit offenen Augen und Ohren“ ihren Besuch abstatten. Speziell jene Pflegebedürftigen sind den nicht korrekt handelnden Pflegeheimen und Pflegediensten nahezu schutzlos ausgeliefert.

Die immer mehr in Mode kommenden Wohngruppen (z.B. bei Demenz) werden von Behörden erst gar nicht kontrolliert, weil es hier offenbar eine Gesetzeslücke gibt. Wohngruppen zählen wie Sie sicherlich wissen nicht als „Pflegeheim“ und sind denen auf rechtlicher Ebene nicht gleichgestellt. Keine stattfindende Kontrolle bedeutet gleichzeitig offene Türen für Missstände aller Art. Dies alleine ist schon ein unhaltbarer Zustand.

In Pflegeheimen finden Kontrollen viel zu wenig statt und wenn, dann sind diese seitens der Behörden vorangekündigt. Zeit genug also, offensichtliche Mängel zu beseitigen bzw. zu vertuschen. Unangekündigte und regelmäßig stattfindende Kontrollen würden ein sehr probateres Mittel im Kampf gegen Missstände darstellen. Ein Pflegeheim welches „alles richtig macht“ und eine menschenwürdige Gegebenheit bietet muss unangekündigte Kontrollen nicht fürchten.

Warum wird hier nicht aufgrund der deutschen „Pflegevergangenheit“ – gesäumt von misshandelten und vernachlässigten Personen – endlich eine vernünftige Kontrollinstitution geschaffen welche ihre Kontrollen auch konsequent bzw. schonungslos umgesetzt? Zu den traurigen Spitzen dieses Eisberges müsste es erst gar nicht kommen, kein Skandal entwickelt sich von heute auf morgen und hat meist eine recht lange Geschichte.

Man muss sich förmlich schämen Bürger eines Landes zu sein, in dem verurteilte Straftäter (Stichwort Sicherungsverwahrung) Schadenersatz zugesprochen bekommen während auf der Menschenwürde unserer Pflegebedürftigen tagtäglich und ohne Rücksicht dafür mit Wissen der Politik herumgetrampelt wird. Man muss sich weiterhin schämen wenn es deutsche Gesetze ermöglichen, dass couragierte Bürger ihre Rechte Missstände zur Anzeige zu bringen erst vor dem Europäischen Gerichtshof zugesprochen bekommen (Stichwort Brigitte Heinisch).

Zeigen Sie bitte nicht mit dem Finger auf andere Länder, wenn es im eigenen Land mehr als nur „stinkt“.

Dass Pflegeheime sich beschwerende Bürger vor Gericht schlichtweg mundtot machen wollen, damit Missstände nicht ans Tageslicht kommen scheint kein Einzelfall zu sein wie die aktuellen Vorkommnisse in Berlin und meine eigene Erfahrung mit einer Pflegeeinrichtung zeigen.  Bei diesen Vorgehensweisen von Heim- bzw. Pflegedienstleitungen muss von ebenfalls höheren Dunkelziffern ausgegangen werden, weil sich nicht alle Betroffenen nach außen hin offenbaren oder eben gerichtlich zum Schweigen „gezwungen“ wurden.

Dies liegt meines Erachtens zu einem beachtlichen Teil auch daran, dass sehr viele Richter schlichtweg überfordert sind hier die Zusammenhänge bei Pflegeabläufen genau zu erkennen.

Das Eingreifen der Politik in das Pflegerecht zum einen und die Durchsetzungen einer strikten Einhaltung der Menschenwürde zum anderen ist dringend erforderlich. Daher gilt es heute und wiederholt einzufordern:

  • die Würde der Menschen in Pflegeheimen an oberste Stelle zu setzen und zu überprüfen, dass dies nicht nur zum Schein und auf dem Papier eingehalten wird
  • die konsequente Umsetzung des § 87b SGB XI wo diese indiziert ist (zusätzliches Personal für den Betreuungsmehraufwand bereitstellen)
  • die ordentliche Überwachung von zugewiesenen Betreuern und auch der Richter die diese Betreuung veranlassen (abenteuerliche Auslegungen des Betreuungsrechts sind nicht selten)
  • keine Pflegeheime mehr zuzulassen, die ihr Hauptaugenmerk auf die Bettenanzahl richten anstelle auf eine ordentlich durchgeführte Pflege Wert zu legen (Wirtschaftlichkeit / Personalmangel / z. B. nur 2 Nachtwachen für 120 Pflegebedürftige)
  • die Abschaffung von Pflegenoten, welche auf sich ausschließlich auf die Bewertungen des Medizinischen Dienstes stützen und mit denen sich Pflegeheime „schmücken“
  • die gefälschten Pflegedokumentationen (auch die Aufforderung seitens Heimleitungen dazu) zu verhindern und ggf. streng zu sanktionieren ( § 267 StGB – Urkundenfälschung) sowie eine entsprechende Transparenz zu schaffen
  • die wahllose Verabreichung von Medikamenten (z.T. auch Überdosierungen) die ausschließlich der Ruhigstellung etc. von Pflegebedürftigen dient besser zu überwachen und bei Missachtung hart zu bestrafen
  • Pflegeheimen / Pflegediensten die umgehend Zulassung zu entziehen, wenn diese durch ihr (Nicht-)Handeln ganz bewusst Betrug an den Pflegekassen begehen (Abrechnung nicht geleisteter Pflege)

Die Liste könnte noch weiter fortgeführt werden und zeigt bis hierher nur einen Teil der Problematik in der deutschen Altenpflege. Ihr Handeln ist gefordert – JETZT. Wieder Jahrzehnte ins Land ziehen zu lassen ohne dass sich etwas ändert und das Thema nur mit irgendwelchen Studien über Wasser zu halten kann nicht im Sinne eines sich selbst so bezeichnenden Sozialstaates sein.

Heute betrifft es die Generationen die dieses Land mit aufgebaut haben. Der Dank unseres Staates dafür muss anders aussehen. Niemand hat sich schließlich seine Pflegebedürftigkeit selbst ausgesucht. Morgen sind es Sie selbst die krank werden, Hilfe und / oder Pflege benötigen. Möchten Sie wirklich Ihren Lebensabend weit unterhalb der Menschenwürde verbringen und nur dahinsiechen? Nein. Dann tun Sie etwas und fangen am besten gleich damit an!

An den Artikel 1 des Deutschen Grundgesetzes und dessen Wortlaut muss ich Sie als Volksvertreter sicherlich nicht erinnern!

Mit freundlichen Grüßen
Thomas Liedl

9 Gedanken zu „Offener Brief: Pflegesituation und mangelnde Menschenwürde“

  1. Na, da hoffe ich mal, dass Du entsprechende Stellungnahmen überhaupt bekommst.
    Die aufgezählten Personen sind so hoch in den Wolken angesiedelt, dass sie das einfache Volk weder sehen noch hören können. Und sollte der Brief wider Erwarten doch auf den Schreibtischen der Politiker landen, wird er wahrscheinlich ungelesen im Papierkorb enden.

    Viel Glück, ich drück die Daumen.

    (… natürlich hast Du recht mit Deinen Äusserungen!)

    1. @Trudi: Willkommen bei Nicht spurlos! Die Problematik sind nicht nur die „hoch angesiedelten Personen“ die den Brief erhalten haben, ein weiterer Punkt ist es zu solchen Gegebenheiten überhaupt jemand mobilisieren und interessieren zu können – warum hatte ich kürzlich geschrieben. Weil es für viele ein Thema ist das weit weg ist schweigt man es gerne tot und widmet sich dem reinen Tagesgeschehen. Dennoch gebe ich die Hoffnung nicht auf, die Sache ist ernst genug und sollte überall nur nicht in der „Rundablage“ landen. Danke für Deinen Daumendruck.

      @Alex: Ja Alex, wer es kennt sieht es wahrscheinlich nicht mehr ganz so locker und erkennt, dass es morgen auch ihn erwischen könnte. Danke auch für Deinen Daumen.

      @Aquii: Die Würde ist wahrlich ein schwieriges Thema, nicht nur in der Altenpflege. Aber speziell dort sind sehr häufig Personen betroffen, die nicht mal davonlaufen können wenn es zu schlimm wird. Das können etliche andere auch nicht, ich weiß. Ich denke allerdings Du verstehst was ich damit zum Ausdruck bringen möchte. Mit macht es den Eindruck, dass diese Generation irgendwie fallen gelassen wird. Geht gar nicht.

      Wegen des Bundestrojaners mache ich mir keine Sorgen, denn nichts worüber ich hier berichte ist erfunden sondern selbst erlebt worden. Und die Wahrheit darf man sagen / schreiben…

  2. Habe deine schlimme Geschichte ja nun leider mitverfolgt und daher bleibt mir abschließend nur eines nach deinem offenen Brief: ich drücke dir alle Daumen, dass du Gehör findest!

  3. Zuerst mal großen Respekt für deinen Mut, nach dem ganzen Erlebnissen, nicht zu resignieren und weiter zu machen.

    Um die Menschenwürde geht es in diesem Land schon lange nicht mehr, dass Einzige was zählt ist die Umschichtung von Vermögen, natürlich von unten nach oben, welche Wege dabei beschritten werden ist egal. Und als Wahlvolk kommen pflegebedürftige Menschen auch nicht mehr in Betracht, also warum sollen die deutschen Politikgrößen sich denn vor Ort informieren, da ist ein Treffen mit einem Lobbyverband allemal lukrativer, besonders wenn abzusehen ist, das die nächste Wahl verloren geht.

    Wenn ich das mal sarkastisch formuliere: Du bettelst ja förmlich um einen Bundestrojaner mit diesem Artikel. ;)

  4. Seid doch froh das ihr in Deutschland lebt und so ein gutes Sozialsystem vorhanden ist!

    Ich bin aus Österreich und da ist es nicht anders.

    In Thailand (nur als Beispiel) legens dich auf die Straße und lassen dich verrecken. So schauts aus. Wenn du da keine Verwandten hast die dich im Alter pflegen hast die Arschkarte gezogen.

    Deutschland… Das Land der Jammerer! :no:

    1. @Ley: Wenn Du eine der folgenden 3 Fragen mit einem eindeutigen „Ja“ beantworten kannst dann darfst Du Dich gerne wieder zu Wort melden.

      • Ich habe schon in einem Pflegeheim gearbeitet.
      • Ich habe einen Angehörigen, der in einem Pflegeheim untergebracht ist.
      • Ich habe schon mal weiter in ein Pflegeheim reingesehen, als nur bis zum Fahrstuhl.

      Ansonsten möchte ich Dich bitten, Kommentare dieser Art außen vor zu lassen. Vielen Dank.

  5. Pingback: Offener Brief: Pflegesituation und mangelnde Menschenwürde - Webstreit

  6. Nur so, es könnte sein, dass der Adressat die falschen Personen sind!

    Wenn vor Ort etwas in den Heimen nicht in Ordnung ist, dann musst du dich an das Gesundheitsamt in Hamburg wenden.

    Naja, ich pflege meine Alten zuhause selber – soweit es geht. Wünschte mir nur, es würde gesellschaftlich mehr anerkannt, auch in der Steuer + meiner Rente – wenn ich ich 75 durchhalte^^) Wenn ich zwei Kinder hätte, würde ich viel besser gestellt. (Ich könnte viel mehr jetzt schreiben …)

    1. @Martin: Zunächst mal meinen Respekt und Anerkennung dafür, dass Du die Pflege selbst übernommen hast. Mir ist das aus gesundheitlichen und auch wohnlichen Gründen nicht möglich gewesen „24/7“ dies zu tun, was aber eben erforderlich war. Die „Anerkennung“ für Dein Tun diesbezüglich ist mehr als unterirdisch angesiedelt.

      Falscher Adressat würde ich jetzt nicht generell sagen. Familien-, Gesundheits- und Justizministerium sind hier glaube ich schon sehr gut ausgewählt. Insbesondere das Justizministerium sollte sich hier interessieren, da so manches unter den Tatbestand der Körperverletzung fällt.

      Dein Tipp mit Gesundheitsamt etc. ist gut gemeint. Vorweg wäre sogar noch die Heimaufsicht zu nennen, bei der ich auch gewesen bin. Das allerdings mit einem „entsetzenden“ Ergebnis wie Du hier nachlesen kannst. Solche Vorgänge sind in meinen Augen völliges No-Go. Der Weg übers Gsundheitsamt hätte hier den gleiche Effekt gehabt. SO kann man natürlich auch Probleme „aus der Welt schaffen“ wenn Du verstehst was ich meine.

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